Was niemand sieht… („Maik, räum mal dein Zimmer auf“ / Tag Nr.7)

Trainingsplan Bad Reichenhall 2006Bad Reichenhall im November 2006. Um 17:02 Uhr hallt ein unüberhörbares und vor allem langersehntes „Wegtreten“ durch den dritten Stock. Keine Sekunde später führe ich diesen Befehl mehr als deutlich aus. Raus aus der Uniform, rein in die Uniform. Raus aus olive-braun, rein in neongelb-dunkelblau-wasauchimmer. Spätestens um 17:07 Uhr verlasse ich das Gebäude mit lockeren Laufschuhen an den Füßen, statt schwerer Stiefel, stöpsele die Kopfhörer in die Ohren und befinde mich mit dem ersten Takt des ersten Songs in meiner eigenen Welt.

„Ich reduzier mich auf das Minimum, das ist das Intro zu dem größten Deutschen Liedwerk seit den Nibelungen“ (Prinz Pi / !Donnerwetter!)

Noch heute kriege ich Gänsehaut. Vorbei an der Wache, raus aus der Kaserne und nichts wie abtauchen in die umliegende Berglandschaft. Für die kommenden 90 Minuten gehört mein Herz wieder mir. Entlang am Wasser atme ich mit jedem Schritt wieder ein Stückchen mehr mich selbst ein, baue mich mit jedem Meter wieder zusammen und sammele die Einzelteile des Tages auf.

„Das ist ein Land und viele Städte, alle hängen zusammen wie die Glieder einer Kette. Es geht von Stadt zu Stadt, von Viertel zu Viertel, es ist überall das Gleiche, jetzt fallen die Würfel!“ (Prinz Pi / Kette)

Dunkelheit schleicht langsam über die Bergwipfel hinunter zur Stadt. Straßenlaterne springen im Dominoeffekt hintereinander an und ich sehe in ihrem gleißenden Licht wie mein Atmen kristallisiert. Vor mir schlängeln sich noch unendliche Wege durchs Tal, doch auf meiner Uhr ist wieder der Größte Teil meiner täglichen Dosis an Freiheit bereits verstrichen. Kurzer Wunschgedanke nicht umkehren zu müssen.

„Ich hab noch so viele Fragen, hat das Leben einen Plan, verlässt die Erde ihre ewige Bahn?
Liegt die Antwort auf die Rätsel in Formeln und Zahlen und warum besteht der Gott der Christen nur aus Zorn und Erbarmen?“ (Prinz Pi / So viele Fragen)

Je näher ich der rot-weißen Schranke komme, beginnt sich mein Puls zu verdoppeln, während sich die Geschwindigkeit halbiert und ich halte für mehr als nur einen Augenblick die Luft an, presse sie tief in die Lunge und fülle mit ihr jede freie Lücke meines Körpers. Meine Beine schweben oberhalb des nassen Asphalts, als hätte ich von außen auf Pause gedrückt und ich schließe für einen Moment die Augen, um mir im Kopf Zeile für Zeile vorzurappen, bevor ich wieder meinen Fuß auf das Gelände der Kaserne setze:

„Was niemand sieht, ist der Preis, den ich zahle, all die einsamen Abende ohne meine Süße, die geschwänzten Seminare.“

 

Hintergrund: Im Oktober 2006 wurde ich vom Bund eingezogen, begann meine Grundausbildung in Bad Reichenhall und hatte mir den Spaß wirklich anders vorgestellt, als er schließlich dort stattfand. Trotz Dienstzeiten von 5 bis 17 Uhr schaffe ich es, nach anfänglichen Schwierigkeiten, Woche für Woche um die 100km abzuliefern, zum Teil mit nur 5 Trainingstagen pro Woche. In dieser Zeit habe ich viele Gedanken neben meinem Training dokumentiert, unter anderem diesen hier:

„ich versuche die Umfänge trotz ausfallender Trainingstage bei 100km zu halten. Letztes Wochenende von Freitag zu Sonntag 92km gelaufen. Bislang stärkste Trainingswoche.“

Ich muss damals sehr viel Langeweile an den Wochenenden gehabt haben und daher versuchte ich einfach zu laufen was die Beine nach einer Woche so hergaben. Mein treuer Begleiter damals war das Album !Donnerwetter! von welchem auch die Liedzitate stammen. Als Beispiel für meine Trainings während der Grundausbildung stelle ich euch den November online. In dem Monat bin ich sogar beim Darmstadtcross gestartet, der ja bekanntlich als EM-Quali-Lauf dient. Damals wurde ich bei der U23 14ter, nachdem ich eine Woche im Rahmen eines Biwaks ein Zelt bewohnte. Rückblickend gar kein schlechter Lauf. In diesem Tagebuch schlummern noch mehr spannende Dinger, aber für heute soll das erstmal reichen.

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Training Samstag:

morgens: 20min EL + Koordination + Laufkraft

abends: gesteigerter DL + Fitnesstraining

Training Sonntag:

morgens: 90min DL im Gelände

abends: frei

Veröffentlicht von maik wollherr

Zwischen Training und Therapie - Lauf mit mir eine Runde um den Blog

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